Das Weib sei die Sphinx?
Kein kläglicherer Unsinn und Eindruck:
Man will unbedingt hinter dem Weib etwas suchen, weil man auf alles andere eher wartet, als daß eben nichts da ist. Und so kommt man auf den Gedanken, es mit der Sphinx zu identifizieren, mit der es doch gar keine Ähnlichkeit hat.
Christus hat Magdalena erlöst – sie war Dirne, solange er in der Wüste war.
Wie will ich es schließlich den Frauen vorwerfen, daß sie auf den Mann warten? Der Mann will auch nichts anderes als sie. Es gibt keinen Mann, welcher sich nicht freuen würde, wenn er auf eine Frau sexuelle Wirkung ausübt.
Der Haß gegen die Frau ist immer nur noch nicht überwundener Haß gegen die eigene Sexualität.
Die Unschuld ist Unwissenheit. Wissend schuldlos bleiben wäre das Höchste.
Aus den Dingen erkennt der Mensch sein eigenes Wesen. Jede Erkenntnis ist Erlösung, System und Begründung ist Sühne.
Jeder Erkenntnis ist Wiedergeburt.
X
Briefe, Otto Weiningers
Wien, 8. Februar 1902.
Deine Karte erhielt ich.
Perchè? Studio o romanzo? Lavori tu o scrivi?
Bist Du noch immer nicht in die Verfassung gekommen, zu lesen? Ich möchte nämlich gerne meine Aufzeichnungen und Gedanken über den „Peer Gynt“ abschließen. Nun fällt mir das Schreiben momentan sehr schwer, und ich hätte gerne eine Unterredung darüber mit Dir dazu benützt, um meinen Gedanken die Selbstformung zu erleichtern. Wenn das nun in nächster Zeit unmöglich ist, so bitte ich Dich halt bloß um das Buch. Io ho denari, vorrei restituirtene.
O. W.
Lieber Artur Gerber!
Nächste Woche:
Donnerstag Haupt-, Samstag Nebenrigorosum.
Wenn Du noch hier bist, können wir uns schon am Samstagnachmittag sehen.
Weininger.
Cher coquin cadet!
Habe heute die Hauptprüfung richtig bestanden und sie haben mir in großem Wohlwollen sogar die nichtverdiente Auszeichnung gegeben . . .
Un vieux coquin.
Ischl, 25. Juli 1902
Lieber Gerber!
Mir geht es gar nicht gut, inwendig. Hoffe, daß es Dir wenigstens nicht allzu schlecht geht. Bitte, schreib’ mir nach München, hauptpostlagernd (werde von dort erst am 4. August fortgehen), wie es in P. steht.
München (Löwenbräu), 29. Juli 1902. 5 Uhr nachmittags.
Lieber Freund!
Mir geht’s ein bißchen besser, wenigstens tue ich so, als ob. Auch macht sich bereits der sanfte, aber unwiderstehliche Einfluß des Münchner Bieres bemerkbar. München hat noch keinen großen Mann hervorgebracht: Alle angezogen, keinen gehalten. –
Komme eben aus der Schack-Galerie. Dort hängt eine Kopie des großartigsten Bildes der Welt, des Jeremias von Michelangelo. Ich habe bisher nicht gewußt, daß es so etwas geben kann, daß von einem Bilde soviel ausstrahlen kann.
Unser Abschied hat auch auf meinen Weg seinen Schatten geworfen.
Und Du? Für Dich gilt: Bezähme Deine Leidenschaften, sans phrase. Man hat auch so noch genug Schicksal, wenn man wer ist. Heil Dir!
Dein Otto W.
Nürnberg, Dienstag abends. (5. August 1902, laut Poststempel. )
Lieber, herzlich geliebter Freund!
Sei mir nicht böse, daß ich Dir damals in Löwenbräu, wo das Bier viel schlechter ist als im Pschorr-, Hof- und Spatenbräu, eine offene Karte geschrieben habe. Ich dachte gerade an Dich und hatte eine Karte bei mir und nichts anderes. Der Gedanke ist mir freilich peinlich, daß Deine werte Frau Mutter oder Dein Fräulein Schwester des Schluß jener Karte gelesen und gesagt haben könnte: „Siest Du, der Weininger ist doch ein vernünftiger Mensch! Der hat sein Doktorat gemacht usw. “
Bitte, beruhige mich darüber, daß dies nicht der Fall gewesen ist.
Ich denke oft an Dich, aber Deine jetzige Lage macht mir dieses Denken ziemlich schmerzhaft. Und ich kann jetzt gar nichts für Dich tun! Während Du, aus Deinem glücklichen Winkel heraus, nicht nur für meine Kleidung, sondern auch für meine Speisung Sorge trägst.
Die Salami werde ich in Bayreuth wohl essen, aber leider allein . . .
Ich bleibe vielleicht nur bis Freitag abends in Bayreuth, dann Dresden.
Eins möchte ich Dich bitten: Verlang’ nicht zuviel von mir über mich zu erfahren. Für mich ist’s eine sehr schlechte Zeit jetzt, schlecht wie kaum je. Nicht nur große Unfruchtbarkeit, nicht nur lauter humpelnde, von mir Krücken verlangende Einfälle, und dieser wenig genug; auch ganz anderes. Vielleicht werd’ ich Dir einmal davon erzählen. Ich führe neben dem Leben, das Du kennst, noch immer zwei, drei andere, die Du nicht kennst. Darauf mach’ ich Dich aufmerksam; mehr kann ich Dir nicht sagen, bitte Dich aber, nicht nachzuforschen, in keiner Weise.
Über München und Nürnberg werd’ ich Dir wohl einiges erzählen können, wenn Du willst. Jetzt Schluß! Leb’ wohl!
Dein Otto W.
Bayreuth, 8. August 1902 11 Uhr abends.
Lieber Freund!
Ich hoffe, daß Dir die schöne Karte Vergnügen bereitet hat. Zwar habe ich noch zwei anderen Menschen dieselbe Ansicht geschickt, aber es war für mich nicht der gleiche Akt.
Die Worte, die Wagner vor sein Haus geschrieben hat, werden deine Gedanken zu Dir selber zurückgeführt haben.
Glaub’ nicht, daß ich Dein Leiden nicht voll verstehe. Nur weil ich es verstehe, kann ich dir nichts darüber und dagegen schreiben. Ich weiß, daß für Dich im Augenblick auch jenseits der Staatsprüfung nichts liegt als endloser, freudloser Nebel. Sonst würdest Du ja doch lernen können . . .
Dir fehlt etwas zur vollen Größe, das ist richtig; und hättest Du dies, so würde dies allein Dich auch hindern, soviel an Deine Zukunft zu denken. Denn das ist das Unglück mit Dir. Es gibt Menschen, denen es nach den inneren und äußeren Bedingungen ebenso schlecht gehen müßte wie Dir und die doch nicht so unglücklich sind. Was Dir fehlt, ist eben das Religiöse oder Philosophische oder Metaphysische. Du hast in Dir eine furchtbare, glühende Sehnsucht, eine Sehnsucht, deren Gegenstand Du nicht kennst und nach dem Du doch verlangst, verlangst. Nach Deiner Heimat sehnst Du Dich und ahnst nicht, daß Du sie nur in Dir trägst.
Ich habe noch etwas in Dir zu verrichten. Ganz fehlt Dir das andere nicht, das weiß ich von jener Nacht her, über die wir nicht wieder gesprochen haben. Ich wäre glücklich, wenn ich nach meiner Rückkehr dazu beitragen könnte, diesem andern, dem einzigen Quell einer möglichen Gemütsbefriedigung für den Menschen, zum Fließen zu verhelfen.
Über Bayreuth und den Parsifal schreib’ ich Dir nichts. Denn das wirst Du erst dann verstehen. Morgen fahr’ ich nach Dresden.
Dein O. W.
Viel zu sehen, wenig Zeit, auch wenig Lust zum Erzählen, daher keine dicken Briefe.
Dresden, 12. August 1902
Lieber Freund!
Also das Schicksal der Wurst, der ich in Bayreuth wiederholt mit lebhaftem Interesse nachgefragt habe, hat sich erfüllt. Sie ist reuig zu ihrem Ursprung
zurückgekehrt. War sie noch eßbar? Hoffentlich hast Du’s einmal um zehn Uhr vormittags probiert!
Um von der Wurst allmählich hinanzusteigen: Der Mann ist ein gewisser Dr. Mario C. , den ich, damals noch als Philosophie-Studierenden, auf dem psychologischen Kongreß in Paris flüchtig kennen gelernt habe. Er ist natürlich klein, ganz schwarz, mit verhältnismäßig scharfem Gesicht, klugen Augen, die zu beobachten scheinen. Er machte mir den Eindruck eines sehr ernsten und nicht sehr glücklichen Menschen. Unterhalten habe ich mich weniger mit ihm als in seiner Gegenwart mit seinem Freunde, einem philosophierenden Mathematikprofessor aus Unteritalien, der mich in der internationalen Gemälde-Ausstellung gerade ansprach, als ich dort mich an Klimts „Philosophie“ in großer Schnelle sattgesehen hatte und auf die Estrade hinaustrat.
Jetzt weißt Du alles, was ich weiß . . .
Bitte, schreib’ mir, was es in der sächsischen Schweiz besonderes zu sehen gibt. Aber ein bißchen anspruchsvoller bin ich, als Du geglaubt hast, das, bitte ich Dich, zu bedenken: In der Münchner Sezession sind drei Bilder, über die man sich nicht ärgert, und an Nymphenburg, das Du mir ebenfalls empfahlst, ist gar nichts. Ich weiß ja, wie schön abendlich einem Menschen, der, wie Du, viel in seiner Vergangenheit lebt, jedwede Erinnerung sich vergoldet, selbst die ärgerlichste; mir geht es ebenso; aber man soll sich hüten, den ewig unerfüllbaren Wunsch des Wiedererlebens durch andere befriedigen zu lassen: sonst kommen dann diese zurück und wollen einem alles verleiden, nicht wahr?
Ich gedenke, Dresden am Mittwoch in der Früh zu verlassen. Um zehn Uhr bin ich in Berlin (hauptpostlagernd) und fahre am nächsten Morgen gleich weiter nach Stralsund (postlagernd) und der Insel Rügen (Saßnitz, postlagernd). Dort werde ich wahrscheinlich längere Zeit zubringen. Ich freue mich sehr darauf.
Auf dem Rückwege will ich in Berlin länger bleiben und die sächsische Schweiz besuchen, falls Du mir ernstlich dazu rätst.
Übrigens – an die Natur braucht man keine Ansprüche zu stellen, sie erfüllt eben alle. Ich frage Dich nur, ob ich dort Eindrücke empfangen werde, die P. nicht gewährt. Der sächsische Enthusiasmus macht mir eine Sache immer klein.
Ich entnehme dem Rhythmus Deines letzten Briefes mit Vergnügen, daß es Dir besser zu gehen anfängt. Du spuckst ja bereits auf die Staatsprüfung, auf Zürich!?
Mir geht es heute etwas besser – ich habe jetzt die Überzeugung, daß ich doch zum Musiker geboren bin. Noch am ehesten wenigstens. Ich habe heute eine spezifisch musikalische Phantasie an mir entdeckt, die ich mir nie zugetraut hätte und die mich mit einem starken Respekt erfüllt hat.
Eins: Schreib’ und sag’ Du niemandem etwas von dem, was Dir im Kopfe jetzt herumgeht und Dich mahnt. Auch Sch. nicht und mir schon gar nicht.
Sind die B. s in P. ? (Entschuldige! Eine lange Assoziationskette!) Und was hört man über die Frau K. und den Grafen Taugenichts? Und . . . Schrieb’ mir doch auch etwas über das heurige P. und Dein Verhältnis zu ihm, was Du tust, wenn Du nicht lernst. – Ich habe jetzt die leibhaftige Sixtinische Madonna gesehen. Sie ist – schön. Aber nicht bedeutend; nicht großartig; nicht irgendwie erschütternd. Und die Leute davor! Ich habe mich herzlich amüsiert. Es gibt weit hervorragendere Bilder hier.
Einen hab’ ich entdeckt, einen tiefen Kenner des Weibes: Palma Vecchio. Ich weiß nicht, ob Du dessen Bilder gesehen hast. Es interessiert mich aber, was Du über die Madonna Raphaels denkst.
Servus!
(Stenographiert) 15. August 1902 Im Eisenbahnwagen nach Saßnitz.
Herzlichen Dank für Deinen Brief, der mir von Dresden nachgeschickt wurde.
Nachdem Du selbst die Rede auf