Schließlich hätte ich genug mit der Niederschrift der „Propria“ zu tun.
. . . . Den „Gang“ habe ich keineswegs verstoßen, billige es sehr, daß Du der Sache großen Wert beilegst, und interessiere mich selbst sehr für Deine Resultate. Ich kann bloß den Bewegungen der Schultern und Hände, allenfalls noch der Haltung etwas entnehmen; den Beinen selbst kaum etwas, eher noch dem akustischen Bilde der Schritte . . .
68 Meine Familie wollt mir, dem 20 jährigen, damals entweder den Verkehr mit O. W. oder das Haus untersagen. [Arthur Gerber]
69 Mascagnis „Cavalleria rusticana“ und Leoncavallos „Bajazzo“. [Arthur Gerber]
Wien, 18. Oktober 1902
Besten Dank für Deine Karte, deren Optimismus mir aber sehr verfrüht scheint. – Ich möchte Dich sehr gerne vor Sonntag noch sprechen, und zwar möglichst bald. Vielleicht besuche ich Dich Dienstag um 5 oder 5½ Uhr?
Thema: Meine Einteilung der Frauen in Mütter und Prostituierte.
Hast Du Lust dazu und fürchtest Du nicht in Deinen eigenen Gedanken hierüber gestört zu werden, so antworte mir möglichst schnell mit einem Ja. . . .
(Poststempel: 10. März 1903)
Deine Auffassung des B. teile ich nicht ganz. Aber gut ist, wie Du die psychische Anspruchslosigkeit gerade der Mindestwertigen charakterisierst.
Zur Koitulogie:
Je mehr Verliebtheit und je weniger rein sexuelle Erregung da ist, desto anständiger wird das Kind (kein Verbrecher als Mann, keine Dirne, sondern Mutter als Frau).
Das Geschlecht, glaube ich, entscheidet sich nicht nach dem Grade der „Erregung“: Auf das größere Begehren, respektive die Liebe kommt es an, und es entscheidet die Ähnlichkeit, nicht das Geschlecht.
Bezüglich Mutter-Dirne bin ich also wieder zweifelhaft . . .
Wein, 30. März 1903. (In der Tramway. )
Der Braumüller druckt mein Buch!
Es wird wohl spätestens Ende Mai fertig sein.
Willst Du Freitag mit mir zur Duse als Hedda Gabler gehen? Wenn ja, so will ich zwei Sitze besorgen.
Auch ich habe einen Monat Tag und Nacht zu tun.
Weininger
Also endlich hinter Dir! Das freut mich sehr, noch mehr, was jetzt kommen wird . . .
Übrigens habe ich noch fürchterlich zu tun, schwimme in einem Meer von ersten, zweiten, dritten Korrekturen und schreibe gar nicht mehr mit Blut, nur mehr mit roter Tinte (eine Antithese Nietzsches).
Dein O. W.
Rom, 23. Juli 1903. (Ansichtskarte. )
[Roma, Panorama dalla Cupola di S. Pietro. (Le statue dei santi sul tetto. )]
Ho dovuto passara a Roma, dove sto da ieri mezzogiorno. Non ho mai creduto, che una città potrebbe produrre tal effetto su di me.
Castello S. Angelo (Mausoleum Hadrians)!
Syrakus, 3. August 1903
Statt in Ancona auf ein Schiff lange zu warten, bin ich über Rom, Neapel, Messina, Taormina (einen der schönsten Punkte der Erde), Catania (Ätna) hierher gereist.
In Rom hörte ich den Trovatore, in dem die großartigste Darstellung des Herzschlages sich findet, und bin mehr als je der Meinung, daß Verdi ein Genie gewesen ist; hier hörte ich vorgestern abends in einer zauberischen Gegend, am Strande des mondbeschienenen jonischen Meeres, zwischen der papyrusbestandenen Quelle Arethusa und den Segelschiffen des Hafens, von der Corso-Militärmusik die Cavalleria rusticana spielen.
Als er die schrieb, damals war Mascagni groß. Ich habe jetzt die ganze Gegend gesehen, in der sie spielt, bin unweit Francofonte gewesen, und habe mich sehr gefreut, wie vollkommen richtig ich sie mir vorgestellt hatte: das blondeste Getreide (la cirāsa). Es ist die fruchtbarste Gegend Europas. Über die sizilianischen Duelle der Bauern habe ich reiche Belehrung gesucht und gefunden, und über eine Art selbst den Unterricht eines Ziegenhirten genossen, der wirklich und wahrhaftig auf der selbstgeschnitzten Syrinx blies — allerdings, und zwar sehr schlecht, eine Melodie aus dem Barbier von Sevilla, die gar nicht an den Ort paßte. — Beneide mich aber nicht zu sehr, auch wenn dich, was ich dir hier schreibe, noch so sehr mit Sehnsucht erfüllen sollte.
Syrakus ist die eigentümlichste Gegend der Welt. Hier kann ich nur geboren werden oder sterben — leben nicht.
Auf dem Ätna hat mir am meisten die imposante Schamlosigkeit des Kraters zu denken gegeben. Ein Krater erinnert an den Hintern des Mandrill.
Schrieb mir doch über Dich und das was Du thust, hast es versprochen und bisher nicht gehalten.
Zur Beschäftigung mit Beethoven rate ich dir nur sehr. Er ist das absolute Gegenteil Shakespeare, und Shakespeare oder die Shakespeare-Ähnlichkeit ist, wie ich immer mehr sehe, etwas, worüber jeder Größere hinauskommen muß und hinauskommt. Bei Shakespeare hat die Welt keinen Mittelpunkt, bei Beethoven hat sie einen.
Also ich rechne auf Nachrichten von Probus-hof! Und grüße auch Schiffmann!
Otto.
Syrakus, 10. August 1903.
Ich wünsche durchaus zu hören, inwiefern es Dir jetzt besonders schlecht geht. Deine Furcht, bei mir ein besonderes Gefühl des Glückes oder der Gehobenheit dadurch zu stören, ist unbegründet . . .
Ich bitte Dich, schreibe mir recht bald! über „Geschlecht und Charakter“; und sag’ mir vor allem Deine wahre Meinung über den Wert des Ganzen; ich wäre Dir um so dankbarer, je früher es käme. Mir liegt sehr viel daran . . . Und schick’ mir, bitte, endlich die Kopie des sizilianischen Turiddu-Liedes. Eine Enttäuschung wird es Dir sein, daß Turiddu Abkürzung von Salvatore, (Salva) – torello, ist. Das paßt nicht.
Reggio (Kalabrien), 22. August 1903.
Die Beilagen, außer der gewöhnlichen, aber guten Ansichtskarte (Du mußt Dir nur die Häuser ganz gelb wie Schönbrunn, das Meer vollkommen blau und absolut wolkenlosen Himmel vorstellen), sind:
Zwei Blüten einer Papyrusstaude, ein Stückchen Bast aus dem Stamme derselben, was Du dem Umstande zu zuschreiben hast, daß die Schiffer des Ruderbootes, auf welchem ich den papyrus- und bambusbestandenen Fluß Anapo bis zur Quelle, der berühmten Cyane, fuhr (was ich Dir [ und zwar ebenfalls im Boote ] unbedingt anrate, wenn Du nach Syrakus kommst), gegen meinen ausdrücklichen Willen und ohne mein Wissen eine Pflanze abschnitten.
Die andere Ansichtskarte ist eben aus dem hier wachsenden Papyrus selbst hergestellt und bietet eine sehr schlechte Ansicht der Ruinen des alten griechischen Theaters, jener Stätte, wo der Sonnenuntergang unter allen Punkten, die ich kenne, am ehesten zu ertragen ist.
Lies endlich den „Peer Gynt“, tue mir, wenn schon Dir selbst nicht, diesen Gefallen. Du könntest nämlich einiges aus ihm entwickeln lernen, was in Dir nur sehr schwach ist.
Lies auch Kauser und Galiläer! Auch hierin sind großartige Stellen (aber mit dem andern nicht zu vergleichen!).
Wenn Ibsen weiter so Großes wollen hätte wie im „Peer Gynt“, er wäre größer als Goethe geworden; ich habe selten ein Werk kennen gelernt, wo ich im Laufe der Zeit so wenig von dem ihm gespendeten Lobe zurückgenommen hätte.
Es verrät übrigens Schwäche, nichts lesen zu wollen, um nicht beeinflußt zu werden. Man soll stärker werden durch Lektüre, nicht das Umgekehrte.
Ich werde jetzt längere Zeit nichts schreiben. Adresse: Reggio, Calabrie, ferma in posta. Dagegen könntest Du mir endlich eine ausführliche Kritik von „Geschlecht und Charakter“ schicken. In der letzten Zeit sind einige derart niedrige veröffentlicht worden, die mir der Braumüller zuschickte, daß ich darnach etwas Bedürfnis habe.
Schreibe mir, wie’s Dir geht.
Otto W.
Ich möchte Dich nochmals auf das aufmerksam machen, was ich Dir über Beethoven und Shakespeare schrieb. Du beschäftigst Dich nämlich aus demselben
Grunde mit dem Willensproblem, aus dem Shakespeare den „Hamlet“ schrieb. Der Wille ist das, was der Zeit eine Richtung gibt, das heißt: Vergangenheit und Zukunft voneinander scheidet. Daher hat Shakespeare erst im „Hamlet“ Sinn für den Sinn des Lebens und der Zeit gewonnen . . .
C’è qualche cosa in disordine teco! (Mi dispiace molto, ch’io non so la causa. È la stessa, che ti proibisci di essere produttivo. Credo, che tu hai qualche cosa di un azzardista: tu vuoi troppo come dono regalato dal destino. Tu hai messo troppo e sperato troppo dall’amore di donne); ci vuole la solitudine più che la fuga in società d’altrui; è bisogna, che tu pensi più su di te, con coraggio sempre e dovunque. Questo in italiano, perchè altra gente potrebbe leggere la cartolina. Im übrigen danke ich Dir für Deinen Brief und die Kopie des Liedes. Ich habe schon Montag Kalabrien verlassen und bin heute in Neapel angekommen. (Paestum – Salerno – Amalfi – Sorrento. )
Credi: se un uomo come tu o io non è produttivo, non si deve aspettare il momento, che venga di nuovo, ma cercare la ragione; c’è sempre una colpa.
XI
Briefe, August Strindbergs
Nach Weiningers Tod hatte ich mich an August Strindberg gewendet. Da aus den dem Gedenken an den Verstorbenen geweihten Briefen Strindbergs die tiefe Beziehung sichtbar wird, in der diese beiden großen Geister zueinander standen, veröffentliche ich sie in diesem Buche. — Artur Gerber
Herr Doktor!
Ich habe den gestorbenen Freund verstanden, und ich danke Ihnen!
Vor einigen Jahren, da ich dastand wie Weininger und die Absicht gehegt, weiterzugehen, schrieb ich in meinem Tagebuch: „Warum ich gehe? Cato hat sich selbst den Tod gegeben, da er fand, daß er sich nicht aufrecht halten könne über dem Sumpf der Sünde. Deswegen hat ihn Dante auch als Selbstmörder freigesprochen (Inferno). Jetzt sinke ich (August Strindberg) und ich will nicht sinken, deshalb . . . Knall!“70 – – –
Ich war auf dem Wege aufwärts, aber ein Weib hat mich niedergezogen . . .
Doch ich lebte weiter, weil ich zu finden glaubte, daß unsere Verbindung mit dem Erdgeist Weib ein Opfer war, eine Pflicht, eine Prüfung. Wir dürfen nicht als Götter hienieden leben; wir müssen im Kot wandeln und doch uns rein halten, etc.
Denken Sie sich den Fall Maeterlinck!
Eben das selbe! Er war so hoch über der Materie (Le Trésor des humbles), und da kam der Erdgeist – – – Er ist so tief gefallen, daß er seinen nackten Erdgeist herumführt, um ihn auszustellen und sich! Ist das tragisch!
Dr. Luther, da er sich verheiratete, schrieb and einen Freund: „Ich heiraten? Unglaublich! Ich schäme mich! Aber es scheint, als ob unser Herrgott mich als Narr halten wolle!“
Senden Sie mir die Biographie und alles! – Schering schreib mir beim Todesfalle: „Weininger hat seinen Glauben mit